Freie Enthalpie und chemisches Gleichgewicht
Mit der freien Enthalpie kannst du die Freiwilligkeit von Reaktionen vorhersagen. Entdecke, wie Temperatur und Druck das chemische Gleichgewicht beeinflussen. Mehr dazu im Text!
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Lerntext zum Thema Freie Enthalpie und chemisches Gleichgewicht
Die Einführung der Entropie
Aus dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik (Energieerhaltungssatz) geht hervor, dass in allen chemischen und physikalischen Vorgängen die Energie erhalten bleiben muss. Hierbei wurde die Enthalpie $H$ als eine der thermodynamischen Funktionen eingeführt. Jedoch kann anhand des Energieerhaltungssatzes allein nicht erklärt werden, weshalb manche Prozesse freiwillig ablaufen und andere Vorgänge wiederum nicht. Die Grundlage für Freiwilligkeit bzw. Spontaneität einer Reaktion wird im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zusammengefasst.
Für das Verständnis des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik muss eine weitere thermodynamische Funktion eingeführt werden, die Entropie $S$ (Einheit: $\text{J}/\left( \text{mol} \cdot \text{K} \right)$).
Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik: Bei einer spontanen Zustandsänderung in einem abgeschlossenen System vergrößert sich die Entropie.
Diese Größe wird umgangssprachlich auch das Maß der Unordnung genannt. Formuliert man den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik in eine Gleichung, folgt daraus:
$\Delta S_{tot} > 0$
Diese totale Entropieänderung entspricht dabei der Summe aller Entropieeffekte des chemischen oder physikalischen Vorgangs auf das System $\left( \Delta S_{sys} \right)$ selbst und seine Umgebung $\left( \Delta S_{umg} \right)$:
$\Delta S_{tot} = \Delta S_{sys} + \Delta S_{umg}$
Diese Gleichung gilt für offene und geschlossene Systeme, da in beiden Fällen mindestens ein Energieaustausch mit der Umgebung stattfindet.
Bei einem abgeschlossenen System findet kein Stoff- und Energieaustausch mit der Umgebung statt. Daher gilt folgende Gleichung:
$\Delta S_{tot} = \Delta S_{sys}$
Die Aggregatzustandsänderung – ein Fallbeispiel
Die Änderung des Aggregatzustands einer Substanz ist immer mit einer Entropieänderung verbunden. Hierbei repräsentiert der feste Zustand eine hohe Ordnung durch die dichte Packung der Atome in einem Gitter, wodurch dieser Zustand die geringste Entropie aufweist. Der gasförmige Zustand bildet im Gegensatz dazu eine Zusammensetzung der größten Unordnung und daher den Zustand höchster Entropie.
Anhand der Entropie der einzelnen Zustände kann eine verallgemeinerte Aussage über die Entropieänderung für die Zustandsänderung formuliert werden:
- Entropiezunahme
- fest $\ce{->}$ flüssig
- flüssig $\ce{->}$ gasförmig
- Entropieabnahme
- gasförmig $\ce{->}$ flüssig
- flüssig $\ce{->}$ fest
Warum gefriert Wasser spontan?
Die Entropieänderung des Systems $\left( \Delta S_{sys} \right)$ ist negativ, wenn der Aggregatzustand von flüssig zu fest wechselt. Trotzdem gefriert Wasser bei Temperaturen unter $\pu{0 °C}$ spontan $\left( \Delta S_{tot} > 0 \right)$, bei Temperaturen über $\pu{0 °C}$ ist dieser Prozess jedoch nicht freiwillig $\left( \Delta S_{tot} < 0 \right)$. Die Ursache liegt in dem Verhältnis von $\Delta S_{sys}$ und $\Delta S_{umg}$. In der unten dargestellten Tabelle sind die Zahlenwerte der Entropieänderung für drei Temperaturen bei einem Druck von $\pu{101,3 kPa}$ dargestellt.
Temperatur in $\pu{°C}$ | $\Delta S_{sys}$ in $\text{J}/\left( \text{mol} \cdot \text{K} \right) $ | $\Delta S_{umg}$ in $\text{J}/\left( \text{mol} \cdot \text{K} \right) $ | $\Delta S_{ges}$ in $\text{J}/\left( \text{mol} \cdot \text{K} \right) $ |
---|---|---|---|
+1 | –22,13 | +22,05 | –0,08 |
0 | –21,99 | +21,99 | 0 |
–1 | –21,85 | +21,93 | +0,08 |
Die freie Enthalpie – eine Herleitung
Ein Großteil der Reaktionen findet bei konstantem Druck und konstanter Temperatur statt. Unter diesen Bedingungen entspricht der Energieaustausch mit der Umgebung der Wärmeabgabe oder -aufnahme durch das System. Diese Wärmeenergie wird durch die Änderung der Reaktionsenthalpie $\Delta H$ ausgedrückt. Es gilt:
$\Delta S_{umg} = - \frac{\Delta H}{T}$
Wird dieser Term in die Gleichung zur Bestimmung der totalen Entropieänderung eingesetzt, ergibt sich:
$\Delta S_{tot} = \Delta S_{sys} - \frac{\Delta H}{T} |\cdot T$
$T \Delta S_{tot} = T \Delta S_{sys} - \Delta H$
Auf Basis dieser Gleichung wird eine neue Größe eingeführt, die freie Reaktionsenthalpie $\Delta G$ (Gibbs-Energie). Diese Größe gibt Auskunft über die Triebkraft einer Reaktion.
$\Delta G = - T \Delta S_{tot}$
Aus den vorangegangenen Umformungen lässt sich die sogenannte Gibbs-Helmholtz-Gleichung formulieren:
$\Delta G = \Delta H - T \Delta S_{sys}$
Jeder Term in der umgestellten Gleichung entspricht jetzt einem Energiewert, angegeben in der Einheit $\pu{J/mol}$. Diese Gleichung bringt den Vorteil, dass alle Terme sich auf energetische Änderungen des Systems beziehen und es sich dadurch erübrigt, die Änderungen in der Umgebung zu betrachten.
Die freie Standardreaktionsenthalpie $\Delta G^{0}$ entspricht der freien Reaktionsenthalpie eines Prozesses mit $100\, \%$ Umsatz unter Standardbedingungen ($\pu{101,3 kPa}$) bei einer gegebenen Reaktionstemperatur. Diese entspricht in den meisten Fällen $\pu{25 °C} \left( \pu{298K} \right)$.
Die Freiwilligkeit einer Reaktion
Aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik geht hervor, dass bei einer freiwilligen Reaktion die totale Entropieänderung einen Wert über null einnehmen muss. Aufgrund des Verhältnisses $\Delta G = - T \Delta S_{tot}$ können folgende Aussagen über die Freiwilligkeit einer Reaktion getätigt werden:
- $\Delta G < 0~\ce{->}$ Reaktion läuft freiwillig ab (exergonisch).
- $\Delta G = 0~\ce{->}$ System ist im Gleichgewicht.
- $\Delta G > 0~\ce{->}$ Reaktion läuft nicht freiwillig ab (endergonisch).
Anhand der Gibbs-Helmholtz-Gleichung lässt sich erahnen, dass die Vorzeichen und die Größe der Terme $\Delta H$ und $T \Delta S_{sys}$ entscheidend für die Freiwilligkeit einer Reaktion sind. Hierfür können vier Möglichkeiten formuliert werden, um das Vorzeichen der freien Reaktionsenthalpie $\Delta G$ vorherzusagen.
$\Delta S>0$ | $\Delta S<0$ | |
---|---|---|
$\Delta H>0$ | bei hohen Temperaturen $\ce{->}$ freiwillig | nie freiwillig |
$\Delta H<0$ | immer freiwillig | bei niedrigen Temperaturen $\ce{->}$ freiwillig |
Aus diesen Informationen geht hervor, dass endotherme ($\Delta H > 0$) und exotherme ($\Delta H < 0$) Reaktionen unterschiedlich behandelt werden müssen, um die Freiwilligkeit des Prozesses zu gewährleisten. Dementsprechend empfiehlt es sich, bei endothermen Reaktionen Wärme zuzuführen, um die Bildung der Zielverbindung zu ermöglichen. Bei exothermen Reaktionen gilt der umgekehrte Fall. Hier bietet es sich an, die Reaktion zu kühlen. Diese Prinzipien gelten auch für das chemische Gleichgewicht.
Die freie Reaktionsenthalpie und das chemische Gleichgewicht
Es wird zunächst die folgende chemische Reaktion betrachtet:
$\ce{ A + B -> C + D}$
Dieser Prozess kann ebenfalls in die andere Richtung ablaufen. Sie ist also reversibel:
$\ce{ A + B <- C + D}$
Beide Reaktionen zusammen stellen das chemische Gleichgewicht dar:
$\ce{ A + B <=> C + D}$
Wenn das chemische Gleichgewicht eingestellt ist, befindet sich die Konzentration der Edukte in einem spezifischen Verhältnis zur Konzentration der Produkte. Dies wird über das Massenwirkungsgesetz und die Gleichgewichtskonstante $K$ ausgedrückt. Beispielhaft sollen im chemischen Gleichgewicht $20\, \%$ der Teilchen als A + B und $80\, \%$ als C + D vorliegen. Dieses Verhältnis wird bei der Einstellung des chemischen Gleichgewichts immer gegeben sein. Es ist dabei egal, ob am Anfang $100\, \%$ A + B oder $100\, \%$ C + D vorliegen.
Im eingestellten chemischen Gleichgewicht gilt:
$\Delta G = 0$
Bevor das chemische Gleichgewicht eingestellt ist, gilt immer:
$\Delta G < 0$
Nachdem das chemische Gleichgewicht erreicht wurde, gilt für das Fortschreiten der Reaktion:
$\Delta G > 0$
Der mathematische Zusammenhang
Der mathematische Zusammenhang zwischen der freien Reaktionsenthalpie $\Delta G$ und der Gleichgewichtskonstante $K$ wird über folgende Gleichung formuliert:
$\Delta G = \Delta G^{0} + R \cdot T \cdot \ln{K}$
Die Größen $\Delta G$, $\Delta G^{0}$ und $K$ sind bereits im vorangegangenen Text besprochen worden. $R$ entspricht der allgemeinen Gaskonstante. Dies ist eine Naturkonstante und beträgt $8,314~\text{J}/\left( \text{mol} \cdot \text{K} \right)$. Die absolute Temperatur (Einheit: $\pu{K}$) wird durch $T$ ausgedrückt. Dabei gilt die Beziehung $\pu{0 °C} = 273~K$. Im chemischen Gleichgewicht nimmt die freie Reaktionsenthalpie den Wert null ein, sodass in diesem Fall die Formel folgendermaßen umgeformt wird:
$\Delta G^{0} = - R \cdot T \cdot \ln{K}$
Mit Kenntnis der freien Standardreaktionsenthalpie kann anhand dieser Gleichung für eine bestimmte Temperatur die Gleichgewichtskonstante $K$ berechnet werden. Das Prinzip funktioniert ebenfalls in die andere Richtung, wenn $\Delta G^{0}$ bei Kenntnis von $K$ bestimmt werden soll.
Beispielrechnungen
Fallbeispiel 1 – Bestimmung der freien Standardreaktionsenthalpie
Es wird der Dissoziationsvorgang von $\ce{N2O4}$ betrachtet:
$\ce{N2O4_{(g)} <=> 2 NO2_{(g)}}$
Die Gleichgewichtskonstante $K$ bei $\pu{25 °C}$ wird gegeben mit $K = 0,114$. Dieser Wert wird, wie folgt, in die Gleichung zur Bestimmung der freien Standardreaktionsenthalpie eingesetzt:
$\begin{array}{rll} \Delta G^{0} &=& - 8,314~\frac{\pu{J}}{\pu{mol} \cdot \pu{K}} \cdot 298~\pu{K} \cdot \ln{0,114} \\ &&&\\ \Delta G^{0}&=& 5\,380,19~\frac{\pu{J}}{\pu{mol}} = 5,38~\frac{\pu{kJ}}{\pu{mol}} \end{array}$
Fallbeispiel 2 – Bestimmung der Gleichgewichtskonstante
Die Reduktion von $\ce{CO2}$ mit $\ce{H2}$ führt zur Bildung von $\ce{CO}$ und $\ce{H2O}$. Dieses Gleichgewicht wird bei $\pu{25 °C}$ betrachtet:
$\ce{CO2_{(g)} + H2_{(g)} <=> CO_{(g)} + H2O_{(g)}}$
Die freie Standardreaktionsenthalpie wird gegeben. Eine Umrechnung der Einheiten erfolgt, sodass sich $R$ und $\Delta G^{0}$ in der gleichen Dimension befinden.
$\begin{array}{rll} \Delta G^{0} & = & 27,21~\frac{\pu{kJ}}{\pu{mol}} = 27\,210~\frac{\pu{J}}{\pu{mol}} \\ &&& \\ 27\,210~\frac{\pu{J}}{\pu{mol}} & = & - 8,314~\frac{\pu{J}}{\pu{mol} \cdot \pu{K}} \cdot 298~\pu{K} \cdot \ln{K} \\ &&& \\ \ln{K} & = & - \dfrac{27\,210~\frac{\pu{J}}{\pu{mol}}}{8,314~\frac{\pu{J}}{\pu{mol} \cdot \pu{K}} \cdot 298~\pu{K}} \\ &&& \\ K & = & e^{- \dfrac{27\,210~\frac{\pu{J}}{\pu{mol}}}{8,314~\frac{\pu{J}}{\pu{mol} \cdot \pu{K}} \cdot 298~\pu{K}}} \\ &&&\\ K &=& 1,7\cdot 10^{-5} \end{array}$
Die freie Enthalpie und das chemische Gleichgewicht – Zusammenfassung
- Die Entropie $S$ ist eine thermodynamische Funktion für das Maß der Unordnung.
- Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass bei einer spontanen Zustandsänderung die Entropie zunehmen muss:
$\Delta S_{tot} > 0$
- Die freie Reaktionsenthalpie ist eine thermodynamische Funktion für das Maß der Triebkraft einer chemischen Reaktion. Bei konstantem Druck und konstanter Temperatur entspricht $\Delta G = - T \Delta S_{tot}$. Durch dieses Verhältnis kann die Gibbs-Helmholtz-Gleichung hergeleitet werden:
$\Delta G = \Delta H - T \Delta S$
- Das Vorzeichen von $\Delta G$ gibt Auskunft, ob eine Reaktion freiwillig (exergonisch) oder nicht freiwillig (endergonisch) abläuft. Entspricht $\Delta~G~=~0$, befindet sich die Reaktion im chemischen Gleichgewicht.
- Für ein chemisches Gleichgewicht hängen die freie Reaktionsenthalpie $\Delta G^{0}$ und die Gleichgewichtskonstante $K$ für eine bestimmte Temperatur voneinander ab.
$\Delta G^{0} = - RT \cdot \ln{K}$
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