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Unabhängigkeitsbewegungen und Dekolonisation im 20. Jahrhundert

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Lerntext zum Thema Unabhängigkeitsbewegungen und Dekolonisation im 20. Jahrhundert

Dekolonisation nach dem Zweiten Weltkrieg

Hand aufs Herz – wie viele Länder gibt es auf der Erde? Diese Frage können wohl nur wenige von uns aus dem Stegreif beantworten. Tatsächlich ist die Antwort auch gar nicht so eindeutig, wie man annehmen sollte, denn manche Staaten kämpfen noch um ihre internationale Anerkennung oder sind in ihrer Existenz bedroht. Stand 2024 werden 195 Staaten von der UN anerkannt.

Im Jahr 1945 gab es weltweit nur 72 Staaten. Einer der Hauptgründe für den starken Anstieg dieser Zahl ist die Dekolonisation oder Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und das dadurch ausgelöste Ende der großen Kolonialreiche.

Dekolonisation nach 1945 durch die UN

Unter Dekolonisation versteht man den Prozess der Ablösung eines Gebiets aus der kolonialen Herrschaftsstruktur und die Entwicklung eines eigenen Staates mit eigenen Institutionen, beziehungsweise das Ergebnis dieses Prozesses.

Im Zeitraum zwischen 1945 und 1975 gewann eine ungewöhnlich große Zahl früherer Kolonien ihre Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialmächten Frankreich, England, Portugal und den Niederlanden. Dieser Prozess war sehr komplex und individuell unterschiedlich und ging teils friedlich, teils gewaltsam vonstatten.

Ursachen für die verstärkte Dekolonisation

Bestrebungen zur Entkolonialisierung gab es auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigte sich der Prozess weltweit. Dabei kamen eine ganze Reihe von Ursachen zusammen und beeinflussten sich auch gegenseitig.

Wirtschaftliche Gründe

Die europäischen Mächte waren durch den Krieg geschwächt und teilweise zerstört. Der Wiederaufbau nach dem Krieg hatte zunächst Priorität vor Investitionen ins Kolonialreich. Die Kolonien brachten wiederum den europäischen Staaten nicht mehr ausreichend wirtschaftlichen Gewinn, um die hohen Kosten zur Aufrechterhaltung der Kolonialherrschaft zu rechtfertigen. Dazu gehörten Militärausgaben, aber auch notwendige Investitionen in die Infrastruktur oder in das Bildungswesen in den Kolonien. Für die europäischen Mächte wurden die Kolonien immer stärker zum Verlustgeschäft.

Unabhängigkeitsbestrebungen in den Kolonien

Hinzu kam, dass sich in den Kolonien immer stärker ein Streben nach Autonomie und Selbstverwaltung breit machte. Die Gründe für diese Entwicklung lagen teilweise auch in den Erfahrungen des Weltkrieges. Die Kolonien waren während des Krieges in hohem Maß als Lieferanten von Rohstoffen und Lebensmitteln, aber auch zur Bereitstellung von Soldaten herangezogen worden. Durch die Kämpfe in Europa änderte sich das Bild der kolonisierten Bevölkerung von den Kolonialmächten. Die Truppen aus den Kolonien wurden Zeuge militärischer Niederlagen und der Gräuel des Krieges. Sie sahen die Zerstörung und die Uneinigkeit der Kolonialmächte mit eigenen Augen. Zwei Dinge wurden dabei deutlich: Die Europäer waren nicht unbesiegbar, und sie waren auch nicht moralisch oder zivilisatorisch überlegen. Umgekehrt gewannen die Kolonien ein neues Selbstbewusstsein, was sich auch in der Forderung nach mehr Selbstbestimmung als Gegenleistung für ihre Leistungen im Krieg äußerte. Mit einem steigenden Bildungsniveau in den Kolonien kam auch ein stärkeres politisches Engagement und aufkeimendes Nationalbewusstsein, oft auch über die Grenzen der bestehenden Kolonien hinweg.

Exkurs: Panafrikanismus

Veränderte Denkmuster durch den Kalten Krieg

Mehr und mehr gewannen in der Weltordnung nach dem Krieg die beiden neuen Supermächte USA und Sowjetunion an Bedeutung, die beide aus verschiedenen Gründen der Entkolonialisierung positiv gegenüberstanden. Die USA, selbst eine ehemalige Kolonie sahen sich als Verteidiger des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die Sowjetunion vertrat kommunistische Ideale und sah außerdem eine Gelegenheit, durch die Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegungen den Einfluss des Westens zu mindern. Insgesamt wandelte sich in der Zeit des Kalten Kriegs das internationale Bewusstsein gegenüber dem Kolonialismus und Imperialismus. Mehr und mehr wurde die koloniale Herrschaft als moralisch nicht gerechtfertigt angesehen. Die Charta der Vereinten Nationen bestätigte bereits 1945 den Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker. 1960 kritisierte die UN in ihrer Resolution 1514 offen den Kolonialismus als Hindernis für Frieden, Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Die UN-Resolution 1514

Gewaltloser Widerstand in Indien

Eines der bekanntesten Beispiele für Entkolonialisierung ist die Unabhängigkeitsbewegung in Indien. Dort hatte Mahatma Gandhi das Prinzip der Satyagraha oder des gewaltlosen Widerstand gegen die Kolonialmacht formuliert, das für viele andere Länder zum Vorbild wurde. Ein großes Problem der Unabhängigkeitsbewegung waren die Spannungen zwischen Hindus und Muslimen, die letztlich zur sogenannten Partition, also der Teilung in Indien und Pakistan führten. Beide Staaten wurden 1947 unabhängig, kämpften aber noch lange mit den negativen Folgen der Teilung, wie Umsiedlungen und Grenzkonflikten. Eine wichtige Rolle im Kampf um die Unabhängigkeit spielte auch Jawaharlal Nehru, der als erster Premierminister Indiens sozialistische Gedanken vertrat.

Gandhi auf indischem 200-Rupien-Schein
Gandhi auf Schein
Vertiefung: Mahatma Gandhi

Dekolonisation in Südostasien – Indonesien und Vietnam

Während des Zweiten Weltkrieges hatte Japan große Gebiete in Südostasien erobert und besetzt. Nach der Kriegsniederlage Japans entstand dort ein Machtvakuum, das einige frühere Kolonien zur Erlangung ihrer Unabhängigkeit nutzen konnten. Indonesien war über 350 Jahre lang unter dem Namen Niederländisch-Indien eine holländische Kolonie gewesen. Nach dem Abzug der japanischen Besatzungstruppen erklärte das Land seine Unabhängigkeit, musste sich diese jedoch in einem vierjährigen Guerilla-Krieg gegen die holländische Kolonialmacht bis 1949 erkämpfen. Die Anführer der Unabhängigkeitsbewegung waren Mohammed Hatta und Sukarno, der der erste Präsident Indonesiens wurde.

Auch in Vietnam, vormals Französisch-Indochina konnte die Unabhängigkeit nur durch einen langen Krieg erreicht werden. Dieser endete 1954 mit dem Genfer Indochina-Abkommen und der Zweiteilung des Landes in Nord- und Südvietnam, die schließlich zum Vietnamkrieg führen sollte.

Das „Afrikanische Jahr“ 1960

In Afrika waren bereits 1956 der Sudan und 1957 Ghana unabhängig geworden. Zur großen Unabhängigkeitswelle kam es jedoch im Jahr 1960, als insgesamt siebzehn Länder unabhängig wurden. Abgesehen von der früheren britischen Kolonie Nigeria handelte es sich vor allem um französische Kolonien, die in einem geordneten Prozess nach und nach in die Unabhängigkeit entlassen wurden. Dazu gehörten zum Beispiel Kamerun, Togo, die Elfenbeinküste und Mali. In Algerien dagegen zog sich die französische Kolonialmacht erst nach einem langen Kolonialkrieg 1962 zurück.

Auch andere europäische Mächte hatten Kolonien in Afrika. Ein bekanntes Beispiel ist Belgisch-Kongo, die heutige Demokratische Republik Kongo, dessen Entlassung in die Unabhängigkeit 1960 zu einem Bürgerkrieg und der Errichtung einer Diktatur führte. Portugal gab erst 1974 seine afrikanischen Kolonien in Angola, Guinea-Bissau und Mosambik auf.

Entlassung versus Erkämpfung – Wege in die Unabhängigkeit

Wie man an den obigen Beispielen sieht, konnte der Weg in die Unabhängigkeit sich je nach der individuellen Situation in einer Kolonie sehr unterschiedlich gestalten. Generell kann man festhalten, dass die stärksten kriegerischen Konflikte in sogenannten Siedlerkolonien entstanden, wo sich zahlreiche Siedler aus Europa niedergelassen hatten, die ein Interesse an der Erhaltung der Kolonie hatten. Dazu gehören zum Beispiel Algerien, Kenia und Indonesien. Hier fand also eher eine Erkämpfung der Freiheit statt. Demgegenüber gibt es aber auch Fälle, wo sich die Kolonialmächte friedlich zurückzogen und eine geordnete Übergabe ermöglichten, wie zum Beispiel in Sri Lanka. Der Erfolg der neu gegründeten Staaten hing oft auch davon ab, wie stark die heimische Bevölkerung bereits vor der Unabhängigkeit in die Verwaltung einbezogen war.

Das Erbe des Kolonialismus: Probleme bei der Dekolonisation

Neben den offensichtlichen positiven Auswirkungen der Entkolonialisierung, wie nationaler Selbstbestimmung, Anerkennung der heimischen Kultur und Befreiung von kolonialer Unterdrückung, gab es auch eine ganze Reihe von Problemen, die ihre Wurzeln in der Kolonialherrschaft hatten.

  • Viele neu gegründete Staaten wurden durch Relikte aus der Kolonialzeit belastet und in ihrer Entwicklung behindert. Dazu gehören koloniale Institutionen, soziale Ungleichheit, aber auch entsprechende Denkmuster und Stereotypen. In vielen Ländern besteht noch immer ein starkes Gefälle zwischen Stadt und Land, mit großen kulturellen Unterschieden.
  • Die oft willkürlich gezogenen Grenzen der ehemaligen Kolonien führten zur Bildung von Vielvölkerstaaten und damit zu Spannungen zwischen verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen, bis hin zum Separatismus, also zu Teilungsbestrebungen, und zum Bürgerkrieg. Die Situation wird oft noch verschärft durch zugewanderte Minderheiten, die während der Kolonialzeit als Arbeitskräfte ins Land geholt wurden.
  • Die Wirtschaft in vielen ehemaligen Kolonien ist noch immer stark auf die Produktion von Rohstoffen, Lebensmitteln und Genussmitteln ausgerichtet. Es fehlt an weiterverarbeitender Industrie, was zu Armut und zu wirtschaftlichen Abhängigkeiten führt.

Das Erbe der Kolonialzeit ist noch immer deutlich sichtbar. Es äußert sich eher positiv in Institutionen wie dem britischen Commonwealth of Nations, in dem die früheren Kolonien heute gleichberechtigt zusammenarbeiten. Aber es steht auch immer noch im Hintergrund von Kriegen, Konflikten und Armut überall auf der Welt. Im Grunde bleibt die Dekolonisation ein fortwährender Prozess, der auch heute noch nicht komplett abgeschlossen ist.

Unabhängigkeitsbewegungen und Dekolonisation im 20. Jahrhundert — Zusammenfassung

Quellenangabe zur UN-Resolution 1514
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